Superfuture
von Sidney Ford
Berlin, Dezember 2099
Zwei Stunden lang war Cedric Mambatta III durch dunkle Häuserschluchten geirrt. Auf verstaubten Strassen, vorbei an toten Fenstern und über verlassene Boulevards. Wiederholt hätte er schwören können, dass jemand ihn verfolgte, doch da war niemand, auch wenn immer wieder seltsame Geräusche von den Wänden hallten. Es gruselte ihn, keinem lebendem Wesen, nicht mal streunendem Getier begegnet zu sein. Endlich, nachdem er auf dem Rückweg das Brandenburger Tor durchschritten hatte, funkelte mattes Licht durch heruntergelassene Jalousien eines Erdgeschosses. Er hatte eine Ausschankstätte gefunden.
Da wurde ihm klar, dass er sich keine drei Blocks neben seinem Hotel befand. Mambatta hätte wetten können, dass dieses Lokal zuvor dort nicht gewesen war. Wie aus dem Nichts war es erschienen. Was für eine unheimliche Stadt.
Durst und Erschöpfung waren stärker als sein Misstrauen, und er trat in die namenlose Bar. Auf knarrendem Parkett schritt er vorbei an dunklen Möbeln. Neonröhren und Gaslampen gaben gerade genug von der Einrichtung preis, um ohne Stolpern an den Tresen zu gelangen. Dieser war überraschend sauber poliert. Dahinter türmte sich eine stattliche Kollektion aus Flaschen und Gläsern auf. Sie sahen so edel aus, dass ein Getränk hier an der Theke für die meisten Einwohner ganz offensichtlich unerschwinglich war. Wohl auch deshalb war niemand sonst zugegen. Über der Bar hing ein riesiger Bildschirm, der das Programm des staatlichen Senders „Barrel Media“ übertrug. Alle öffentlichen Lokale waren verpflichtet, den Sender rund um die Uhr auszustrahlen. Die Bevölkerung hatte schliesslich informiert zu bleiben.
Mambatta verlor sich für einige Werbespots in wild geschnittenen Bildern und rief dann nach der Bedienung. Keine Antwort. Auch in den folgenden zehn Minuten nicht. Er fühlte sich wenig willkommen, aber noch wollte er nicht in seine Unterkunft zurückkehren. Nicht in dieser Nacht, nicht nach den letzten drei Wochen, in denen er, abgetaucht im NeoNet, kaum vor die Tür gegangen war.
Auf dem Bildschirm erklärte die Moderatorin neben einer Europakarte, dass gegen Nachmittag heftige Sonnenwinde die östlichen Regionen heimsuchen würden. Sein Vater hatte ihm einst erzählt, früher sei der Wetterbericht erst am Ende der Nachrichten ausgestrahlt worden. Was für eine abstruse Vorstellung.
Absätze erklangen, eine Dame mit strenger Kleidung und zusammengebundenen rotbraunen Haren trat hinter die Theke. Wache Augen in einem durchaus ansprechenden Gesicht musterten ihn skeptisch. „In dem Aufzug gibt’s hier nichts.“
Mambatta bemerkte, dass Staub seine dunkle Lederjacke hatte grau werden lassen. Er griff in die Tasche und warf seine Marke auf die Theke. Sie zeigte das Logo des International Care Units ICU, der kontinentalen Sicherheitsbehörde.
Die Dame las seinen eingravierten Nachnamen ab. „Mambatta? Der gleiche Name wie der Diktator?“
„Schlimmer“, knurrte er. „Er war mein Grossvater.“
„Und was hilft dagegen?“
„Brandy. Doppelt.“
„Nennt sich Weinbrand.“
„Nicht dort, wo ich herkomme.“
Sie hob eine Flasche mit edlem Etikett vom Regal, füllte ein Glas mit rotgoldener Flüssigkeit und schob es ihm zu. „Warum sind Sie hier? Arbeit? Vergnügen?“
Der Brandy schmeckte herrlich. Er hatte ihn Whiskey schon immer vorgezogen, weil er dessen pures Gegenteil war. Brandy schlich erst sanft über die Zunge und strahlte dann in den ganzen Rachen aus. Wie ein Hieb mit der Handkante. „Arbeit. Irgendwann. Und das andere ist ... wahrlich kein Vergnügen ...“
Auf dem Bildschirm erschien neben der Nachrichtensprecherin ein Bild von Alim, dem Präsidenten der Sonnenstaaten. Mit zornigem Blick hielt er ein bräunliches Stück Papier in die Kamera. Laut Sprecherin handelte es sich dabei um einen Auszug des heiligen Buches, der von einem ‘Teufelsplaneten’ berichtete. Alim sei zugetragen worden, dass die Tiefraumbehörde im Auftrag des Vatikans aktiv nach einem solchen Gestirn suche. Dies sei eine inakzeptable Provokation. Seit Jahren habe man Paris vergeblich um ein Raumschiff gebeten, um eine eigene Suche nach einer neuen Heimat starten zu können. Und nun müssten die Sonnenstaaten feststellen, dass der Westen lieber Hirngespinsten nachjage, statt den Partnern im Osten in diesen schweren Zeiten beizustehen. Präsident Alim habe deshalb mit ernsthaften Konsequenzen gedroht. Es folgten verwackelte Bilder einer Militärbasis, angeblich aus dem Territorium der Sonnenstaaten, wo sich mehrere antik anmutende Fluggeräte ins junge Tageslicht erhoben.
Mambatta strich durch seinen dichten Bart. Nicht erst seit Sonnenwinde die Erde heimsuchten, monierte der Osten, man müsse am Raumprogramm beteiligt werden. Und nun, da die Kooperation offen eingefordert wurde, deuteten die Weststaaten dies umgehend als Aggression.
„Ein Kriegsausbruch hat uns gerade noch gefehlt“, flüsterte die Dame und fasste ihn ins Auge. „Wann finden Ihre Kollegen endlich für uns eine neue Heimat?“
„Nicht meine Behörde.“
„Jemand von Ihrem Rang wird doch bestimmt so einiges mitbekommen.“
Mambatta zuckte mit den Schultern. Es war ihm tatsächlich egal, ob die Flotte der Tiefraumbehörde fündig wurde. Ihn interessierte bloss seine eigene Suche. Nach seinem Stern. Nach seiner Sonne.
Er strich mit dem Daumen über den Metallring an seinem Mittelfinger. Die Bewegung aktivierte einen holographischen Projektor, der ein bläulich schimmerndes Menu über seiner Handfläche erscheinen liess. Mambatta startete einen weiteren Suchlauf. Nur Sekunden später meldete ein widerspenstiges Zirpen, dass keine Treffer erzielt wurden – trotz der besten Überwachungssoftware des Kontinents. Wie war das nur möglich? Er hatte ihre Spur eindeutig nach Deutschland zurückverfolgen können. Doch seit er in Berlin angekommen war, hatte das Netzwerk keine einzige Bewegung verzeichnet.
Wo steckte sie?
Mambatta seufzte tief und streckte der Dame den Bonder hin, um zu bezahlen.
Sie ignorierte es, schenkte sich ein Glas Wasser ein. „Wer sagt, dass ich hier arbeite?“ Sie trat um den Tresen, setzte sich neben ihn, fixierte die Marke auf dem Tresen. „Fündig geworden?“
„Woher wollen Sie wissen, dass ich was suche?“
Sie liess seine Frage unbeantwortet. „Sie suchen jemand ganz bestimmtes.“ Es klang nach einer Feststellung.
Mambatta fühlte sich ertappt, und das nervte ihn gewaltig. Er wandte sich ab, trank einen tiefen Schluck.
Draussen flackerten Lichter auf, doch erst das Geräusch von Motoren weckte seine Aufmerksamkeit. Verwundert drehte Mambatta sich um. Blaurote Lichter zuckten jenseits der Jalousien, ein hypnotisches und blendendes Lichtspiel. Die Frau neben ihm war verschwunden, so als wäre sie nie da gewesen. Was zum Henker ging hier vor sich?
Mambatta nahm sein Glas und trat vor die Tür. Drei Geländewagen waren auf dem Kopfsteinpflaster erschienen. Uniformierte Männer standen einsatzbereit, von nervösem Kunstlicht umfangen. „Geländeleiter Mambatta?“, fragte eine Gestalt, deren Gesicht er nicht erkennen konnte.
Mambatta knurrte irritiert und erinnerte sich, dass „Geländeleiter“ das deutsche Pendant zu Uberchief war, seinem vormaligen Titel in Boston. „Erzählen Sie mir was, das ich nicht weiss. Zum Beispiel, was das hier soll.“
„Verzeihung, dass wir Sie über Ihren Bonder lokalisiert haben.“ Der Mann trat näher. Er war der einzige, der Bart und Mähne statt Helm trug. „Sergeant Sigmar Braunschweiger, ICU Europa.“ Er schickte seinen Worten ein strahlendes Lächeln hinterher.
War das Charme oder gute Laune? Es war gute Laune! Sowas konnte er bei Wildfremden überhaupt nicht ausstehen. „Klingt nicht gerade dringend."
„Ich fürchte doch, Sir. Wir benötigen Ihre Assistenz bei einer Erkundungsmission.“
„Erkundungsmission? Dafür haben Sie mich aufgestöbert?“
„Die Angelegenheit ist äusserst delikat. Unser Vorhaben erfordert das ausdrückliche Beisein eines Offiziers der Stufe fünf.“
„Sergeant, Berlin ist der Hauptsitz des ICU. Ich werde ja wohl kaum der einzige Geländeleiter sein.“
„Sie sind der einzig Verfügbare. Der Kader tagt in Dänemark und steckt dort wegen des Flugverbots fest, das vor einer halben Stunde verhängt wurde. Bestimmt haben Sie von der Aggression der Sonnenstaaten gehört.“
Mambatta stöhnte. „Was genau möchten Sie erkunden?“
„Es gab einen Einbruch. In der westlichen Sperrzone.“
„Wie weit westlich?“
„Katalonien.“
„Das sind zweitausend Kilometer. Können das nicht die Kollegen vor Ort übernehmen?“
„Dazu bedarf es einer Sonderfluggenehmigung. Die liegt uns zwar vor, doch wir brauchen einen Geländeleiter.“ Braunschweiger machte eine hilflose Geste. „Sir, Sie sind ranghöher. Daher kann ich Ihnen nicht befehlen, uns zu helfen. Aber die Sache könnte einen internationalen Zwischenfall auslösen.“
„Wer ist denn der Geschädigte?“
Braunschweiger flüsterte die Antwort beinahe. „Das fragliche Anwesen gehört dem Vatikan.“
Ein Stromstoss durchzuckte Mambattas Körper. Er griff nach dem goldenen Kruzifix, das von seinem Hals hing. „Geben Sie mir fünf Minuten, um meine Uniform zu holen.“
„Für Formalitäten fehlt uns leider die Zeit.“ Als Braunschweiger auf die hintere Tür seines Fahrzeugs wies, setzte künstlicher Platzregen ein und begann Mambattas Brandy zu verwässern. Er kippte das Getränk in seinen Rachen und schleuderte das Glas zu Boden, bevor er sich auf den Rücksitz begab. Die Wagen fuhren an.
Mambatta lehnte sein Haupt an die Kopfstütze und sah aus dem Fenster, um ein Gespräch zu vermeiden, aber schon ein paar Kreuzungen später überkam seinen Nachbarn die Neugier.
„Sie und ich sind ja praktisch Landsmänner. Ich bin auf Vancouver Island aufgewachsen und vor fünfzehn Jahren hierhergezogen. Wegen meiner Frau. Bestimmt haben Sie sich schon eingelebt. Ich meine, hier drüben ist’s ja praktisch wie bei uns. Die EU übernahm damals ohne Murren fast alle Gesetze der NASP.“
Mambatta knurrte nur, ohne zu antworten.
„Ganz besonders möchte ich Ihnen für den tollen Einsatz in Boston danken“, fuhr Braunschweiger fort. „Sie haben den Boss vom Gründerhof gerettet. Seine Firma beschäftigt hier das halbe Land. Wir verdanken Ihnen viel.“
Die Männer auf den Vordersitzen schielten über ihre Schultern und nickten verschwörerisch.
Mambatta realisierte, wie neu ihre Uniformen waren. Nicht so abgeschabt wie die Ausrüstungen seiner einstigen Untergebenen. Die Erinnerung daran schmerzte. Der Massenprotest im Bostoner Regierungsviertel. Die heranstürmenden Terrorkommandos. Die Räumung des Senats. Der Tod seiner Leibwächterin und Vertrauten Isabel.
„Wann immer man mir für die Geretteten dankt, erinnert es mich bloss an die Gefallenen.“ Man hätte denken können, dass vierhundertvierzehn Überlebende die siebenundzwanzig verlorenen Seelen aufgewogen hätten. Doch das taten sie nicht.
Braunschweiger lächelte gequält. „Tut mir aufrichtig leid, Sir. Wenn Sie mir die Frage gestatten“, fuhr er fort, „wieso haben Sie sich ausgerechnet nach Berlin versetzen lassen? Wie man hört, waren Sie sogar als Vizechef der Taubkraft im Gespräch. Also, nach Ihrer Entlassung aus der U-Haft natürlich.“
„War als Neuanfang gedacht ...“ Was nicht ganz der Wahrheit entsprach. Viel mehr versuchte er durch den Ortswechsel genau jenen Teil seines alten Lebens zu retten, ohne den er nicht fortfahren wollte.
Braunschweiger nickte nur und liess ihn mit weiteren Fragen in Ruhe, bis der Konvoi sein Ziel erreichte.
Durch feiste Tropfen an den getönten Scheiben erkannte Mambatta zwei Thrazer im Nirgendwo. Diese kantigen Überschallvögel – optisch eine Kreuzung zwischen Habicht und Schildröte – waren eine beeindruckende Errungenschaft der Deutschen. Sie kamen nur bei sehr heiklen Missionen zum Einsatz, und auch dann nur über europäischem Gebiet.
Mambatta stiess die Wagentüre auf. Nasser Asphalt, blendende Schweinwerfer, in der Ferne Strukturen und Stacheldraht. Sie eilten durch den künstlichen Schauer übers Areal, kletterten in die Metallkörper, und nur wenige Minuten später beschleunigten die Stahlvögel auf dreifache Schallgeschwindigkeit. Im Inneren merkte man von der Beschleunigung wenig, was an den Gravitationsgeneratoren lag. Allerdings war es furchtbar laut in der Kabine.
Als sich Mambatta halbwegs an den Krach gewöhnt hatte, bemerkte er, dass dieser nicht nur vom Antrieb stammte. Da war ein nervenzerreissender Brei aus fremdartigen Klängen, dem eine gewisse Rhythmik innewohnte. „Was ist das für ein Getöse?“
Braunschweiger zeigte lachend zur Decke. „Meine neue Lieblingsband. ‘The Lawful Killings’. Grossartig, nicht?“
„Die gehört verboten.“
„Ist sie auch. Aber nicht wegen der Musik, sondern wegen der Parolen. Die 'Lawful Killings' sind von den Öko-Nazis aus dem Norden. Diese Kommunenarden. Wir nennen sie Sandalenbomber.“ Braunschweiger grinste verkniffen. „Die kommen, um unsere Vorräte und unsere Gerätschaften zu stehlen. Und gelingt ihnen das nicht, so sabotieren oder zerstören sie sie. Als ob’s unsere Schuld wäre, dass dort oben nix mehr wächst. Niemand hat sie gezwungen, die Gemeinschaft zu verlassen und wie Wilde zu leben. Aber über die Songtexte gelingt es oft genug, ihnen auf die Schliche zu kommen und ihre Lager auszuheben.“
Draussen zog das versteppte Westland Frankreichs vorüber. Hier wohnte schon lange keine Menschenseele mehr, weil saurer Regen den Grund nachhaltig verdorben hatte. Nur widerwillig drängte Licht am Horizont über die braune Ebene. Oberhalb davon schillerten rötliche Schlieren wie Entzündungen, bei Tag und bei Nacht. Verdammte Sonnenwinde, dachte Mambatta, sie suchten den Planeten seit Jahren heim. Sie verödeten die Landmassen und störten elektronische Systeme. So sehr, dass die globale Zivilisation schon mehrere Male am Rand des Zusammenbruchs gestanden hatte. Man konnte förmlich dabei zusehen, wie die Erde unbewohnbar wurde.
„Geben Sie’s zu, Geländeleiter“, sagte Braunschweiger unvermittelt, „Sie wollten zurück in die Wildnis. Kann ich verstehen. Ich will ehrlich sein: Wir können Ihre Hilfe gut gebrauchen. Wir verweichlichen völlig, weil wir die Innenstädte kaum mehr verlassen.“ Angewidert blickte er auf die Steppe, die vor dem Fenster vorbeizog. „Ich hoffe nur, dass die Tiefraumbehörde bald fündig wird und wir diesen verfluchten Drecksplaneten verlassen können.“
„Wo in Katalonien befindet sich unser Ziel?“
„Barcelona.“
Ausgerechnet. Die Stadt war vor vierzig Jahren durch einen Terroranschlag auf ein Kernkraftwerk in Tarragona kontaminiert worden und seither absolutes Sperrgebiet. Was gab es dort schon zu holen, das nicht lebensbedrohlich verstrahlt war?
Die Positionsanzeige über ihren Sitzen zeigte an, dass es noch dauern würde, bis sie die ehemalige Küstenmetropole erreichen würden, weshalb Mambatta eine holografische Kontrolltafel auf der Handfläche erscheinen liess. Doch bevor er eine weitere Anfrage an die interkontinentale Personendatenbank schicken konnte, begannen sie sich dem verdorbenen Grund zu nähern. „Weshalb landen wir? Bis Barcelona sind’s noch über hundert Kilometer.“
„Sicherheitsprotokoll, Sir. Wir wollen nicht auf dem Radar auftauchen. Es sind zwar alle Stellen unterrichtet, aber unsere Freunde beim Vatikan haben um grösstmögliche Diskretion gebeten.“
Nach dem Ausstieg fand sich Mambatta auf der zerfurchten Landebahn einer Flughafenruine wieder. Die zerfallenen Gebäude hoben sich kaum von der Umgebung ab. Der Tag verspürte keine Lust, sich über dem Horizont zu erheben: Dunkle Wolken schleppten sich zäh über sie hinweg, und das Gestrüpp auf den Hügeln schien alles Morgenlicht zu verschlucken.
Braunschweiger verteilte silberne Zylinder, die sich seine Männer an den Hals drückten. Ein Serum gegen Strahlung, wie er Mambatta erklärte. Diese hätte inzwischen stark abgenommen, aber man wolle vorsichtig sein. Danach stiessen die Soldaten vier schmutzige Geländewagen aus einem Hangar und schleppten Treibstoffkanister heran. Mambatta konnte sich kaum vorstellen, dass die alten Karren aus eigener Kraft rollen würden, doch nachdem ihre Tanks befüllt waren, stotterten sich Motoren rostig lachend ins Leben.
Wenig später folgte der Konvoi einer kurvenreichen, schmalen Landstrasse, mit hoher Geschwindigkeit, denn es war unwahrscheinlich, dass sie andere Fahrzeuge kreuzen würden. Sie passierten verfallende Villen und menschenleere Siedlungen. Vernarbte Fassaden, aus denen Gewächs hing. Mutter Natur wucherte hemmungslos und hatte die meisten ihrer Farben verloren. Autowracks und kaum definierbarer Abfall säumten den Weg. Ganz selten streunte zerzaustes Hundsvieh vorüber und fletschte gelbe Fänge.
„Was für ein Jammer. Dies war mal einer der beliebtesten Urlaubsorte Europas“, bemerkte Braunschweiger.
„Sonst hätten die Terroristen den Ort auch nicht gewählt“, erwiderte Mambatta lustlos.
Diesmal verstand Braunschweiger den Wink nicht. „Man muss sich fragen, weshalb sie nicht schon früher damit begannen, Kernkraftwerke anzugreifen.“
„Von wem sprechen Sie?“
„Na, von den Sonnenstaaten.“
Mambatta schüttelte den Kopf. „Die haben doch stets bekräftigt, nichts mit der Sache zu tun zu haben.“
„Und wer war’s dann?“
„Ich habe jemand sagen hören, Madrid stecke dahinter. Als Vergeltung für die Abspaltung.“
„Gewagte These ...“
„Wir werden es wohl nie erfahren.“ Die geschundene Landschaft gruselte Mambatta zunehmend. In diesem Moment wäre er lieber woanders gewesen, in seinem Hotelzimmer beispielsweise. Mit einer guten Flasche Brandy. „Wieso müssen wir hierher? Es hätte ja wohl gereicht, eine Drohne zu entsenden.“
„Zu unsicher. Die Zentrale verlangt, dass wir die Angelegenheit mit eigenen Augen prüfen. Sie werden schon sehen.“
Die Hügel gewährten einen kurzen Blick auf das ergraute Mittelmeer, doch das war es nicht, was Mambattas Aufmerksamkeit vereinnahmte. Ein knorriger, entlaubter Baum ragte in weiter Ferne in die Höhe und verschwand aus Mambattas Blickfeld, als der Wagen eine andere Richtung einschlug. Mambatta wurde eiskalt. Genau dieser Bau war eines der wiederkehrenden Motive seiner Albträume, die ihn seit einiger Zeit heimsuchten. Zufall oder die Rache seines exzessiven Alkoholkonsums?
Braunschweiger schien sein Unwohlsein bemerkt zu haben. „Geländeleiter? Alles in Ordnung mit Ihnen?“
Mambatta ignorierte die Frage. „Wie weit noch?“
„Fast da.“
Der Konvoi hielt am Fusse einer sandsteinfarbigen Villa mit Kuppeldach, das wohl einst weiss und erhaben gewesen sein musste. Entlang einer verwinkelten Treppe ragten von Büschen gesäumte Pappeln in die Höhe. Die Hälfte der Soldaten sicherte die Strasse beidseitig ab, der Rest der Truppe machte sich bereit, zur Villa zu gehen.
Plötzlich, Lambada zuckte zusammen, erschien hinter einem der Fahrzeuge eine Frau. Sie hatte ihre rotbraunen Haare zu Zöpfen gebunden, in die Metallschmuck eingeflochten war. Ihr Blick war auf ihn gerichtet, Mambatta glaubte Bedrohliches in ihren Augen zu lesen.
Da traf es ihn wie ein Faustschlag. Dieses Gesicht. Schon wieder ein Dejà-vu. Es war die geheimnisvolle Frau aus der Bar.
Bevor er etwas sagen konnte, verschwand sie hinter dem Geländewagen. Er wollte ihr folgen, doch Braunschweiger hielt ihn zurück.
„Unsere Fahrt hat sich gelohnt, finden Sie nicht?“
Mambatta starrte ihn an. „Bitte?“
Braunschweiger wies auf das protzige Gebäude, das über ihnen auf einem kleinen Hügel thronte.
„Die Villa dort. Unser Ziel.“
„Was ist das für ein Ort?“
„Die ehemalige Sommerresidenz.“
„Von wem?“
„Der Päpstin.“
Päpstin Luzia die Erste war bereits vor Jahrzehnten verstorben, aber Mambatta konnte sich bildlich vorstellen, wie sie in ihrem silbernen Seidenkleid die Treppe herabtrat.
Noch einmal drehte er sich um. Die Frau war nirgendwo zu sehen.
Missmutig folgte Mambatta den Soldaten hinauf zum Anwesen.
„Vor zwei Wochen“, erläuterte Braunschweiger, „erreichte die Berliner Zentrale aus dieser Villa ein Alarmsignal. Über eine Landleitung. Man hatte beim Bau sicherstellen wollen, dass der Alarm auch bei Netzwerkausfall funktioniert.“
Mambatta kniff die Lider zusammen. „Zwei Wochen? Und wir kreuzen erst jetzt auf?“
Der Sergeant lächelte gequält über die Schulter. „Das Signal wurde zunächst als Kuriosität gewertet. Zieht man in Betracht, woher es kam, ist das nachvollziehbar. Wir erhalten viele Fehlalarme. Nicht selten sind es Hinterhalte der Sandalenbomber. Erst bei der Überprüfung der Liegenschaft begriffen wir, dass sie Eigentum des Vatikans ist. Als wir Rom vor acht Stunden über die Situation in Kenntnis setzten, wurde umgehend eine Intervention verlangt.“ Braunschweiger blieb am Rand eines ovalen Swimmingpools stehen. Im schwarzem Wasser schaukelte modriger Unrat. Am anderen Ende hob sich das Herrenhaus vor kahlen Hügeln in den inzwischen anthrazitfarbenen Himmel.
Braunschweiger zeigte auf den wuchtigen Eingang. „Man würde es nicht vermuten, aber im Untergeschoss soll sich eine der grössten Kunstsammlungen der Welt befinden. Soviel konnte ich meinem römischen Kontakt entlocken.“
„Die wurde nach der Kernschmelze nicht evakuiert?“
Braunschweiger hob theatralisch den Zeigefinger. „Es heisst, der Tresorraum sei hermetisch abgeriegelt. Was immer er birgt, könne theoretisch diese und die nächste Zivilisation überdauern.“ Er gab seinen Leuten das Zeichen, zum Portal der Villa vorzurücken. Ein Soldat bedeutete ihm mit lautloser Geste, dass der Eingang unverschlossen war.
Mambatta wartete zu, bis die Männer in die Villa eingedrungen waren, und folgte ihnen in eine opulente, dämmrige Eingangshalle, an deren Ende zwei Treppen ins Obergeschoss führten. Ein deckenhohes, schlieriges Fenster liess fahles Licht in die Halle fallen, es war die einzige Lichtquelle.
Mambatta wischte Staub vom Glas und erblickte jenen entlaubten Baum, der ihm bei der Anfahrt ins Auge gestochen war. Erschrocken zuckte er zurück. Die stacheligen Äste des Baumes ragten in alle Richtungen, auf seiner Krone hockten Raben und starrten mit unbeeindruckten Knopfaugen auf ihn hernieder. Mambatta kam es vor, als würde sich der Baum zur Villa neigen, durch die Fensterfront brechen und ihn mit seinen spitzen Ästen durchbohren. Sein Herz wummerte.
Braunschweiger hatte sich neben ihn gestellt. „Der Baum des Lebens. Sie wissen schon: Adam, Eva, der Apfel?“
Endlich begriff Mambatta, dass es sich nicht um eine natürliche Struktur, sondern um Kunst handelte. Der Stein, aus dem der Baum gehauen worden war, schimmerte verräterisch im kalten Tageslicht.
„Angeblich war die Skulptur das Geschenk eines rumänischen Künstlers, einem Landsmann von Päpstin Luzia. Ich hatte während der Anfahrt Zeit, die Geschichte der Villa zu überfliegen. Sie wollen nicht wissen, was der Transport gekostet hat.“
„Da haben Sie Recht.“
„Verstehe.“ Braunschweiger verstummte.
Inzwischen hatten sich die Soldaten in der Halle postiert und liessen blaue Suchlichter über Grund und Wände gleiten. Ein Soldat winkte sie herbei und zeigte zur Treppe in den Untergrund.
Die Fussspuren, die im Scanner-Licht aufblitzten, hatte Mambatta schon einmal gesehen. Nur Spezialschuhe, ausschliesslich für militärischen Gebrauch bestimmt, hinterliessen solche Profile. Weil sie mit Antigravitation ausgestatten waren, vermochten sie Bodensensoren zu täuschen.
Mit angelegten Schusswaffen traten die Soldaten die Stufen hinab, schlichen um die Ecke und folgten dem Gang, bis sie eine filigrane Holztür erreichten. Vorsichtig, auf Braunschweigers Signal, zog der vorderste der Soldaten die Tür auf. Blasses Licht drängte herauf. Sie stiegen eine weitere Treppe hinab und erreichten ein Gewölbe mit halb offenstehender Bunkertüre. Bläuliches Licht ruhte auf den untersten Stufen. Braunschweiger mahnte seine Leute, auf ihren Positionen zu verweilen, und tat den ersten Schritt in den Raum hinter der Stahltür.
Mambatta folgte ihm vorsichtig. Er war sich sicher gewesen, dass der Bunker leergeräumt war. Jetzt blickte er überrascht auf eine überbordende Menge an Kunstwerken: Skulpturen, Büsten, eine massive hölzerne Weltkugel, daneben, plastikverpackt in schwarzen Regalen, eine Vielzahl von Gemälden. Die Wände bedeckten Elektrotapeten, die Fenster vorgaukelten. Sie zeigten das umliegende …dland, vermutlich aus Erdgeschosshöhe und in Echtzeit.
Braunschweiger liess seinen wachen Blick über die Metallplatten an der Decke schweifen. „Eine hochkarätig gefertigte Schatzkammer.“
Mambatta konnte keine Lücke zwischen den Trouvaillen ausmachen. „Mit einer erstaunlichen Anzahl an Trophäen, wenn man den offenen Eingang bedenkt.“
„Weswegen wir sicherstellen sollten, dass nichts abhandengekommen ist.“ Braunschweiger entfernte ein quaderförmiges Gerät von seinem Gurt und drückte einen Datenspeicher in dessen Oberseite. Ein Display aktivierte sich. „Die Inventarliste, die uns Rom gesendet hat.“ Das Gerät schwebte aus seiner Hand und hielt direkt unter der Decke Position. Lichtstrahlen schossen aus den Seiten. Nach und nach erschien neben jedem Gegenstand ein zuckender, holografischer Zwilling.
Mambatta vermutete, dass der Scanner einen Abgleich vornahm. Sobald eine Übereinstimmung verzeichnet wurde, leuchtete das jeweilige Hologramm grün auf und verblasste. Durchaus ein unterhaltsamer Vorgang. Er hatte schon viel Löbliches über die Spielzeuge der Deutschen gehört. Als sich das letzte Hologramm auflöste, schickte die Sonde einen Strahl herab, direkt auf einen Korpus in der Mitte des Raumes, und legte dessen Innenleben virtuell offen. Hunderte Schächte wurden sichtbar, darin Papiere, die sich sukzessive auflösten. Alle, bis auf eines, das rot markiert wurde.
„Tressant“, murmelte Braunschweiger. „Hier fehlt was. Wie gut, dass uns eine Kopie vorliegt.“ Er hielt seinen Bonder an die Markierung. Die Abbildung eines bräunlichen, ausgefransten Papiers mit fremdartigen Schriftzeichen erschien. Neben der Kopie prangten virtuelle Buchstaben in englischer Sprache. Sie enthielten Informationen über das fehlende Stück.
Mambatta hatte es sofort erkannt, und es überkam ihm ein Schaudern. Das Papier glich jenem Fetzen, den Präsident Alim in der Nacht in die Kamera gehalten hatte.
„Papyrus nennt sich das“, erklärte Braunschweiger, stolz über sein Wissen. „Über dreitausend Jahre alt. Erstaunliche Wahl, wenn man sich das Angebot des Bunkers anschaut.“
„Sind die anderen Seiten im Archiv alle vorhanden?“
Braunschweiger nickte.
„Wie viele Seiten umfasst die Sammlung denn insgesamt?“
Er blickte zur Anzeige neben der Tafel. „Rund siebenhundert.“
„Was war an dieser einen so interessant, dass sie gestohlen wurde?“
Braunschweiger senkte die Augenbrauen. „Das zu beantworten ist nicht unsere Aufgabe.“ Er zögerte. „Aber Sie haben Recht. Ist schon merkwürdig.“ Er blickte auf den Bonder. „Das Netzwerk klassifiziert die Sprache als Hebräisch. Die beherrsche ich zwar nicht, der Computer dafür schon.“
Mambatta beugte sich über den Tisch. „Wollen wir mal sehen.“
„Da hat jemand Blut geleckt.“
„Meine Familie hat ein Faible für alte Fundstücke“, murmelte er und überflog die Zeilen, die der Computer als Übersetzung ausgab. Verwirrung erfasste ihn. „Das ist unmöglich.“
„Wie meinen?“
„Dieser Text, er ... Mein Bruder hat mir diese Geschichte erzählt.“ Er fühlte sich in seine früheste Kindheit zurückversetzt. Als er auf dem afrikanischen Kontinent gelebt hatte.
„Wovon handelt sie denn?“
Mambatta ging die Zeilen erneut durch. „Es ist eine von vielen Legenden aus dem Sudan, dem Land meiner Vorfahren. Eins dieser Geistermärchen, mit denen man kleine Kinder erschreckt.“ Er las die wissenschaftlichen Anmerkungen. „Diese Passage stammt angeblich aus den Schriftrollen, die man in den Höhlen bei Qumran entdeckte. Jener sensationelle Fund zur Mitte des letzten Jahrhunderts, beim Toten Meer.“
„Ja, das sagt mir was.“
„Der Sudan liegt rund tausend Kilometer südlich davon. Durchaus denkbar, dass die Legende ihren Weg in die Heilige Schrift gefunden hat.“
Braunschweiger packte ihn bei der Schulter und lachte. „Wollen Sie mir wohl endlich verraten, wovon die Geschichte handelt, oder kann ich danach nie mehr einschlafen?“
Mambatta sah auf. „Sie erzählt von einem Dämon. Wenn Sie so wollen vom Teufel. Wie er den Menschen ihre Wünsche erfüllte, nur um sie später zu entführen. Weit weg von der irdischen Welt. Zum dunkelsten Punkt am Himmel, den die Ältesten ‘Höllenkörper’ nannten. Der Text enthält sogar eine Positionsangabe. Aber die Stelle wurde entfernt.“ Mambatta zeigte auf ein Brandloch.
Wie, fragte sich Mambatta, war die Seite in Alims Finger gelangt? Steckten etwa die Sonnenstaaten hinter dem Diebstahl? Eigentlich unmöglich, da die Einbrecher Antigravitation benutzt hatten – jene Technologie, an der sich der Konflikt überhaupt erst entzündet hatte. Braunschweiger würde er nichts von alldem sagen. Vermutlich hatte der die Ansprache des Präsidenten gar nicht gesehen.
Ohne ein weiteres Wort verliess er den Bunker.
Die deprimierende Umgebung, der kalte Wind und der Staub trieben ihn auf den Rücksitz. Missmutig beobachtete Mambatta einen Soldaten beim Steuern einer Erkundungsdrohne. Hinter ihm verlor sich der Ozean in endloser Einöde. Wenn er doch nur eine Flasche aus der Bar hätte mitgehen lassen, irgendetwas, um die Unruhe zu bändigen oder wenigstens zurückzudrängen.
Die Frau war nirgendwo zu sehen.
Mambatta schloss die Augen. Er wollte an nichts mehr denken, nicht an seine Kindheit, nicht an seine Albträume oder seine Visionen. Wenn Braunschweiger weiter trödelte, würde er sich selbst ans
Steuer setzen und aufs Gaspedal treten, um diesem düsteren Ort zu entkommen.
Endlose Minuten später quetschte sich der Sergeant neben ihn und gab das Signal. Während der Rückfahrt war er damit beschäftigt, dreidimensionale Scans der Kunstschätze über seinem Ring rotieren zu lassen, weswegen er Mambatta mit Geschwätz verschonte. Seinem Dauernicken nach musste er tief beeindruckt von den Fundstücken sein.
Als sie den alten Flugplatz erreichten, piepte Braunschweigers Bonder. Ihre Flugerlaubnis sei nun auf das durchschnittliche Niveau gesenkt worden, erklärte er. Dies bedeutete, dass sie widerrufen worden war und sich die Mannschaft mit dem Rückflug gedulden musste. Schliesslich hatten sie mit der Sicherung der Anlage ihren Auftrag erfüllt. Regen setzte ein, die Männer und Frauen flohen unter das Längsdach vor dem ehemaligen Haupteingang. Die Welt verwandelte sich in Schlick.
Mambatta hatte sich abgesondert und nutzte die am Flughafen stabile NeoNet-Verbindung, um die Datenbanken der Tiefraumbehörde nach dem angeblichen Teufelsplaneten zu durchforsten. Er landete keinen Treffer und hatte auch keinen erwartet. Viele Sektionen des Weltraums waren ausgegraut, wohl aus taktischen Gründen, da die Fortschritte bei der Planetensuche sogar gegenüber hochrangigen Offizieren wie ihm geheim gehalten wurden.
Schlamm schmatzte. Braunschweiger war neben ihm erschienen. „Ist es das, wofür ich es halte?“
Wortlos liess Mambatta den virtuellen Sternenhaufen verblassen.
Braunschweiger grinste. „Wäre ja auch ein Bisschen viel verlangt gewesen, nicht? Ich meine, eine Sternenkonstellation? In der Heiligen Schrift?“
„Das Alte Testament beschreibt sogar eine Art Raumschiff.“
„Tatsächlich?“
„Es soll dem Propheten Hesekiel gehört haben.“
„Aber Teufel im Weltraum? Kann ich mir nicht vorstellen.“
„Ich mir ebenso wenig. Doch seit dem Verschwinden der Cubik erzählt man sich, dass ein Dämon unsere Flotte heimsucht.“
Braunschweiger verzog abschätzig das Gesicht. „Astronautengarn. Solche Geschichten erzählte man sich schon, da segelten unsere Schiffe noch über die Weltmeere. Damals nannte man solche Erscheinungen ‘Klabautermänner’.“
„Ich bin letzte Woche im NeoNet auf das persönliche Logbuch eines Crewmitglieds gestossen. Dort stand, sein Schiff hätte den letzten Notruf der Cubik abgefangen. Sie sei deshalb nie zurückgekehrt, weil sie einen mysteriösen Planeten entdeckt habe. Sie hätte dort etwas Uraltes und abgrundtief Böses geweckt. Etwas, das unsere Flotte aus Rache angreife.“
Braunschweiger war nicht überzeugt. „Auf welchem Kreuzer hatte dieses Mitglied gedient?“
„Auf der Milleneuf. Auch die verschwand, wie Sie wissen, vier Monate nach Verlust des Flaggschiffs.“
„Bestimmt alles Zufall. Und falls nicht: Wenn dort draussen tatsächlich der Teufel, ein Saboteur oder sonst ein verrückter Alien rumrennt, dann soll er sich bei mir melden“, erwiderte Braunschweiger.
„Mein Team und ich stehen bereit.“
„Wo Sie Ihr Team erwähnen ...“ Mambattas Blick schweifte zu den Soldaten unter dem Vordach. „Die Gefreite mit den rotbraunen Haaren. Ungefähr so gross wie ich, rote Zöpfe mit Metallschmuck, feuriger Blick. Wo ist sie?“
„So jemanden gibt es in meiner Truppe nicht.“ Braunschweiger betrachtete Mambatta misstrauisch.
Eilig zeigte Mambatta auf eine der drei uniformierten Soldatinnen in Braunschweigers Truppe, eine schmale Frau, deren Haarpracht dunkelblond glänzte. „Ach, dort steht sie ja. Wissen Sie, manchmal bin ich schlecht mit Farben. Ich wollte nur sichergehen.“
„Kenn ich. Berufsgewohnheit, Geländeleiter. Ich vergewissere mich auch ständig, ob meine Leute vollzählig sind.“
Eine halbe Stunde später bekamen sie die Erlaubnis zum Rückflug. Braunschweiger vermutete, dass sich der Vatikan für ihre Fluggenehmigung stark gemacht habe. Sie waren die einzigen, die auf diesem Weg unterwegs waren. Europaweit bestand das allgemeine Flugverbot unverändert.
Kurz vor der deutschen Grenze liess Braunschweiger das Tempo drosseln, um den Krach in der Kabine zu reduzieren. Dann klappte er ein Display aus der Decke und schaltete auf Barrel Media. Der Sender übertrug gerade die angekündigte Ansprache von Admiral Vincent Claire, dem obersten Befehlshaber der Tiefraumbehörde. Mit seiner schwarzen Uniform trat er vor das schlichte Sprecherpult mit der Organisations-Flagge im Hintergrund.
Claire war in seinen späten Fünfzigern, hatte kantige Gesichtszüge, dunkle Augen und die mittellangen Haare an den Kopf geliert. „Ich möchte mich kurzfassen. Was die jüngsten Spekulationen anbelangt: Ja, es trifft zu. Wir hatten auf Begehren Roms hin eine gesonderte Erkundungsmission gestartet. Diese liegt jedoch eine Weile zurück.“
„Darf man das Ziel dieser Mission erfahren?“, fragte ein Reporter.
„In dieser Hinsicht hat uns Rom um Diskretion gebeten“, erwiderte Claire in seinem gewohnt ruhigen, aber bestimmten Tonfall.
„Welches Schiff wurde dafür entsendet? Die Cubik?“
„Auch hierzu möchte ich mich nicht äussern.“
Eine dritte, weit aufgebrachtere Stimme meldete sich zu Wort. „Dann wurde die Cubik vom Leibhaftigen persönlich vernichtet? Und die anderen Schiffe auch?“
„Uns sind keine Umstände bekannt, die auf eine Zerstörung hinweisen. Im Übrigen würde ich mehr Sachlichkeit bei den Fragestellungen begrüssen. Und nun muss ich zurück an die Arbeit.“ Mit diesen Worten verschwand er aus dem Bild.
„Was verschweigt uns der Admiral?“, rätselte die Studiomoderation. „Was, wenn es den Teufel dort draussen wirklich gibt?“
„Wir sind ja nicht mal Ausserirdischen begegnet, Schätzchen,“ murmelte Mambatta.
„Die Teufelstheorie könnte sich bewahrheiten“, erklärte der Moderationskollege mit der üblichen emotionslosen Mimik. „Aufnahmen, die in diese Richtung weisen, wurden uns erst vor wenigen Minuten zugespielt. Eine Warnung an empfindlichere Zuschauer: Die Bilder sind verstörend. Es handelt sich dabei um ein Überwachungsvideo aus einem der Suchschiffe. Es legt leider die Vermutung nahe, dass sich ein weiterer Zwischenfall ereignet hat.“
Tonloses Filmmaterial zeigte verzerrte Schwarz-Weiss-Bilder einer Gestalt, die durch verlassene Korridore irrte. Ihre Bewegungen erinnerten an ein wildes, paranoides Tier auf zwei Beinen. Sie hatte bleiche Haut, war dürr und hatte lange, pechschwarze Haare. Aufgrund der miserablen Bildqualität war kaum zu erkennen, ob sie Kleidung trug. Mambatta glaubte gar, Krallen statt Händen gesehen zu haben. Die Kreatur passierte zwei leblose Körper am Boden, bevor sie sich der Kamera bewusst zu werden schien. Unvermittelt stand sie direkt vor der Linse, so als hätte der Film einige Sekunden übersprungen. Die Qualität der Aufnahme wurde pixelig, doch gleichwohl sah man, wie eine schneeweisse Iris in die Kamera blinzelte. Danach war der Clip zu Ende.
„Angeblich wurden die Bilder an Bord der Ennea aufgenommen“, erklärte die Sprecherin. „Aus Kreisen der Tiefraumbehörde haben wir erfahren, dass der Kontakt zu diesem Militärboot letzte Woche abriss.“
„Da haben Sie Ihren Klabautermann“, brummte Mambatta. Für seinen Geschmack passten die Bilder der Bestie viel zu gut zur Story über einen verhexten Planeten. Die Medien waren eng ans Regime gebunden und deshalb stets gut für eine durchgeladene und entsicherte Räuberpistole.
Ob diese Story am Ende ein Ablenkungsmanöver war? Eine Ausrede, mit der man den Sonnenstaaten weismachen wollte, die Suche nach dem Höllenplaneten sei berechtigt? Das einzige, was die Leute glauben liess, dass sie eine bewohnbare Welt finden würden, war schiere Verzweiflung über die sich ständig verschlimmernde Situation auf der Erde.
„Was für eine Vorstellung. Die Sandstaaten erklären uns den Krieg, weil sie glauben, wir würden mit unserer Flotte lieber den Teufel jagen, statt unsere Schiffe mit ihnen zu teilen. Und dann stellt sich heraus, dass da vielleicht was dran ist? Was für ein Tag!“
Mambatta zuckte mit den Schultern. „Interessiert mich nicht. Ich befinde mich offiziell im Urlaub.“ Was das Weltgeschehen anbelangte, befand er sich sogar im Ruhestand.
Braunschweiger lachte auf. „Ganz unter uns: Das meiste, was von dem Sender kommt, ist ohnehin gelogen.“ Er wandte sich diskret an den Piloten. „Flugschreiber adjustieren.“
„Verstanden“, erwiderte dieser. Sogleich erloschen mehrere kleine Lichter.
Braunschweiger öffnete ein Geheimfach und zog eine Flasche Wodka hervor.
Mambatta war verblüfft. „Die hatten Sie die ganze Zeit über griffbereit?“
Der Sergeant grinste. „Wir mussten erst die Basis verlassen. Und gegen den Unsinn aus der Kiste gibt es nur ein einziges Gegenmittel.“ Er schenkte zwei Gläser ein und salutierte Mambatta. „Verzeihen Sie mein Französisch, aber ich muss es auf gut Deutsch sagen: Scheiss aufs Jahrhundert!“
In diesen Toast stimmte Mambatta nur zu gerne ein.
Anders als im bedrückend trüben Südfrankreich, leuchtete die deutsche Hauptstadt im rostigen Sonnenlicht, als der Thrazer im Regierungsviertel aufsetzte. Mit Verweis auf seinen höheren Rang und insbesondere das trockene Wetter luchste Mambatta seinem Kollegen die Flasche ab, bevor er die Tür aufstiess. Gleissendes Licht überfiel ihn wie ein wildes Tier. Er hatte in der schummrigen Kabine des Thrazers völlig vergessen, dass der Nachmittag noch nicht vorüber war, und um diese Zeit begab sich niemand ohne Sonnenbrille auf die Strasse. Seine eigene hatte er natürlich im Apartment gelassen. Er nahm einen Schluck aus der Flasche, stolperte geblendet über den Bürgersteig, suchte schliesslich Schutz im Schatten einer Gasse, eine schwarze Schlucht nach der gleissenden Helligkeit, in der sich erst das Knie stiess, dann mit dem Kopf gegen die Wand prallte und kurz darauf zwischen Holzkisten zu Denken aufhörte.
Es waren Kälte und Feuchtigkeit, die ihn aus dem Nichts zurückholten. Mambatta konnte das Wasser bereits auf der Haut spüren. Seine Kleider fühlten sich wie nasse Handtücher an. Er tastete nach der Flasche, spürte Splitter, kam schliesslich auf wackelige Beine. Über den hohen Bauten, die ihn umgaben, glitt ein gewaltiger, dunkler Ziegel durch eine sternenlose Nacht. Ein einsamer Ultralith, der Wasser im Meer getankt und entsalzt hatte, um nun seine feuchte Ladung über der Stadt abzuwerfen.
Eine Viertelstunde erreichte Mambatta den Eingang seines Hotels und drückte die Hand gegen den Scanner. Doch wegen der Feuchtigkeit oder der Kälte oder sonst einem verdammten Grund verblieb das Lämpchen rot. Per Knopfdruck holte er einen Zahlenblock auf die Anzeige und tippte den Zugangscode ein.
Einmal. Zweimal.
Falsch.
Ihm schwante, dass Braunschweigers Wodka die Kombination aus seinem Kopf gespült hatte. Fünfkantige Technik! Er presste die Stirn gegen den gläsernen Eingang, ob er jemanden erkennen konnte, doch der Raum dahinter lag im Dunkeln. Früher hatte es für solche Fälle Nachtpersonal gegeben. Schöne neue Welt.
Mambatta zögerte, den Code erneut einzutippen. Eine weitere falsche Eingabe, und der ICU würde vorbeischauen.
Dann sah er es.
Der ICU war bereits da.
Direkt hinter ihm.
Mambatta drehte sich um. Seine Knie wurden weich, beinahe stürzte er. Vor ihm stand die Frau mit den rotbraunen Haaren. Die Metallstücke an ihren Zöpfen blitzten im Licht der Laternen. Sie musterte ihn streng, flankiert von schwer bewaffneten Männern.
Seine Vision. Verdammt real.
„Ich bin Kommandantin Vortia Bardoni“, erklärte die Frau kühl und wies auf das Eingabefeld. „Soll ich Ihnen assistieren?“
Mambatta nickte, während er zu akzeptieren versuchte, was geschah.
Die Kommandantin hielt ihren Bonder gegen den Scanner. Mambatta erkannte das Abzeichen auf ihrem Oberarm. Die schlichte, kupferfarbene Doppelwelle war das Emblem des Megakonzerns Substream Industries.
Das Lämpchen über dem Eingabegerät leuchtete grün auf, die Tür glitt beiseite. Mambatta war nicht erstaunt, dass die Unbekannte Zutritt hatte. Der Leihapartmentbau befand sich im Besitz von Substream. „Danke“, murmelte er verlegen.
Bardoni nickte. „Dürfte ich Sie kurz sprechen?“ Es klang nicht nach einer Frage.
Mambatta spähte zu den Uniformierten und schüttelte den Kopf. „Ich veranstalte keine Gruppenführungen durch mein Apartment.“
Lautlos bedeutete sie ihren Männern, sich zu postieren.
„Damenbesuch zu so später Stunde kann man ja wohl schlecht ausschlagen.“ Mambatta bedeutete ihr, ihm zu folgen, und ging durch den dunklen Korridor hinüber zum Fahrstuhl. Die Lichter der Kabine flackerten.
Im Apartment machte sich Mambatta nicht die Mühe, die Beleuchtung einzuschalten. Durchs Fenster, das sich entlang der ganzen Wand erstreckte, fiel genug Licht ein, damit auch Bardoni den Weg finden würde.
Auf dem Glastisch vor seinen Knien standen ein Kristallglas und eine halbvolle Flasche Brandy bereit. Er schenkte sich ein.
Bardoni hatte ihm den Rücken gekehrt und blickte durchs Fenster. „Nett haben Sie’s hier.“
„Finden Sie?“ Er starrte zur Decke und genoss, wie der Alkohol seine Wirkung tat.
„Meine Unterkunft hat nicht mal Fenster.“
„Meine sind mir gar nicht aufgefallen. Was gibt’s denn zu bestaunen?“ Er hörte, wie ihr Haarschmuck sanft klimperte, als sie sich umdrehte. Sie starrte zuerst auf ihn herab, dann auf sein Glas, das er bereits geleert hatte. „Möchten Sie auch was?“
„Ich wollte nur sehen, ob Sie mit Ihrem schon fertig sind.“
„Wozu?“
Sie seufzte. „Ich muss Ihnen leider schmerzhafte Mitteilung machen.“
„Hätten Sie das bloss unten auf der Strasse gesagt.“ Er schenkte sich so rasch nach, dass der Brandy über die Ränder schwappte. „Immer raus damit.“
„Ihr Bruder, Cherish. Er ist tot.“
Mambatta erstarrte.
„Er wurde vor wenigen Tagen aufgefunden. Alles weist auf einen Stromschlag hin. Die Suche nach dem Täter dauert an.“
Langsam stellte er das Glas zurück. Cherish war tot? Das konnte nicht sein. „Manchmal wiegt das Fortbleiben der Lebenden schwerer als der Weggang der Toten“, erwiderte Mambatta wie in Trance. Er wusste nicht, wie diese Worte in seinen Mund gelangt waren, aber sie schienen dorthin zu gehören.
„Bitte?“ Ihr harter Tonfall verriet, dass sie gewohnt war, Antworten zu geben anstatt Fragen zu stellen.
„Eine Redensart aus meiner Heimat.“
„Es heisst, Sie und Cherish hätten seit Jahren nicht mehr miteinander gesprochen.“
Mambatta wandte sich ihr zu und musterte sie. „Nun spucken Sie’s endlich aus. Was wollen Sie?“
„Mein Arbeitgeber möchte Ihnen Cherishs Position anbieten.“
Cherish hatte für Substream gearbeitet? Mambatta hatte keine Ahnung, was sein Bruder die letzten fünf, nein, die letzten zehn Jahre getrieben hatte. Er wusste bloss, dass er sich stets brennend für Archäologie interessiert hatte, obwohl das eine offenkundig brotlose Angelegenheit war.
„Um was für einen Job geht es?“
„Um eine Anstellung an Bord eines Schiffes.“
Cherish, dieser verfluchte Abenteurer. „Hören Sie, mich bekommen keine zehn Pferde aus dieser Stadt. Nicht in diesem Leben. Ich habe heute selbst gesehen, was dort draussen los ist. Ausserdem werde ich unglaublich schnell seekrank.“
Bardoni setzte sich auf die Couch gegenüber. In ihrem dunklen Gesicht funkelten zwei Augen. „Dieses Schiff fährt nicht durch Wasser.“
„Sie meinen ein Sternenschiff?“, ächzte Mambatta. „Da fragen Sie ausgerechnet mich? Ich muss Sie enttäuschen, Lady. Ich bin nicht wie Cherish. Ich hab’ keine Ahnung von Technik. Sie ist mir, ehrlich gesagt, zuwider.“
„Sie sollen das Schiff weder steuern, noch reparieren. Sie sollen es befehligen.“
Augenblick! Cherish war Captain gewesen? Mambatta fand keinen Platz in seinem Kopf, an dem er diesen Gedanken hätte unterbringen können.
Bardonis Tonfall wurde milder. „Wir haben eine ausgezeichnete Crew, Geländeleiter. Was fehlt, ist jemand, der sie führt. Und Führung ist einer Ihrer Expertisen.“
Mambatta griff nach dem Glas, das er auf dem Tisch abgestellt hatte. „Falscher Zeitpunkt. Habe zurzeit nicht das beste Verhältnis zur Tiefraumbehörde.“
„Das Schiff, das Sie kommandieren sollen, untersteht nicht der D.S.A. Es gehört einem privaten Investor.“
„Mit anderen Worten: Ihrem Arbeitgeber.“
„Einem Teilhaber. Er hat ausdrücklich nach Ihnen verlangt.
„Wie lautet sein Name?“
„Ich bin nicht autorisiert, Einzelheiten zu enthüllen. Ich kann jedoch bestätigen, dass es sich um einen Prototyp handelt. Das erste zivile Sternenschiff der Geschichte. Sie sollen den Jungfernflug begleiten.“
Mambatta trank einen Schluck. „Verarschen kann ich mich auch selber.“
„Warum, glauben Sie, bin ich Ihnen nach Katalonien gefolgt? Ich habe Sie beobachtet. Sie sind der richtige für den Job.“ Sie musterte ihn lauernd. „So ein Angebot bekommen Sie nicht zweimal. Also: Was sagen Sie?“