Prolog
aus: Der Sandmann – von Dieter Aurass
Ich bin vermutlich der älteste Mensch der Welt und inzwischen 173 Jahre alt.
Geboren wurde ich am 22.04.1990 in ... spielt keine Rolle.
Nein, Sie haben sich nicht verlesen und ich habe mich auch nicht verschrieben. Mein Geist, meine Seele oder wie immer man auch das spirituelle Bewusstsein eines Menschen bezeichnen möchte, lebt seit meinem 17. Lebensjahr pro Jahr 13 Jahre.
Morgen ist es erneut soweit - denn morgen ist wieder Vollmond.
Ich werde einschlafen und wenn ich am nächsten Morgen aufwache, werde ich ein Jahr gelebt haben. Nicht körperlich, aber geistig. Denn ich werde einschlafen und mein Geist wird ein Jahr früher in einem fremden Körper aufwachen.
Wenn dieser Körper den Tag meines Einschlafens erreicht, wird die Person einschlafen und am nächsten Tag werde ich in meinem eigenen Körper wieder aufwachen - geistig um ein Jahr gealtert, körperlich allerdings nicht.
Sie werden sagen: Das hab ich doch schon mal gelesen oder in einem Film gesehen! Alter Hut, Mutter im Körper der Tochter, oder Freund im Körper der Freundin, die lustige Geschichte mit dem Seelentausch. Hat es doch schon hundert Mal im Kino gegeben. Ja, ganz nett und unterhaltsam, aber doch schon ziemlich ausgelutscht.
Sie ... haben ... keine ... Ahnung!
Es ist absolut nichts Lustiges daran, als junger Mann im Körper einer Frau Mitte 70 aufzuwachen.
Es ist nichts Lustiges daran, mit dem Bewusstsein eines anderen Menschen um die Vorherrschaft in seinem Körper zu ringen.
Es ist nichts Lustiges daran, zu glauben, man sei verrückt geworden und demzufolge auch in der Psychiatrie zu landen, wie es mir bei meinem ersten Erlebnis dieser Art erging.
Es ist nichts Lustiges daran, aufzuwachen und plötzlich ein Kind, eine Frau, todkrank, alt, arm, dumm, verkorkst oder eine Mischung aus all diesem zu sein. Nun ja, das triff natürlich alles nicht auf mein Bewusstsein zu, aber auf den Körper und das Bewusstsein, mit dem ich den Körper ab diesem Moment für ein Jahr teilen muss.
Aber seit meinem 17. Lebensjahr bleibt mir nichts anderes übrig, als damit zu leben.
Begleiten Sie mich nur einmal ein Jahr lang und Sie werden sich nichts sehnlicher wünschen, als dass Ihnen das nie passiert. Und obwohl ich mich inzwischen mit meinem Schicksal abgefunden habe, Strategien entwickelt und mich mit dem Unausweichlichen arrangiert habe – es ist ein Horror!
Kapitel 1 – Erwachen (364 Tage zuvor)
Das erste Erwachen war immer das Schlimmste. Die Erfahrung hatte mich gelehrt, zunächst die Augen geschlossen zu halten und erst meine anderen Sinne zu bemühen.
Ich fühlte mit den Händen, auf was für einer Art Bett ich lag. Dabei spürte ich eine recht harte Unterlage und keine hochwertige Bettwäsche. Dann befühlte ich meinen neuen Körper und stellte mit großer Erleichterung fest: Er war männlich.
Die Umgebungsgeräusche waren sehr gedämpft, stammten aber von einer größeren Anzahl von Personen.
Den Geruch, der mir in die Nase strömte, kannte ich leider nur zu gut.
Gefängnis oder Psychiatrie!
Langsam öffnete ich die Augen. Was ich sah, war eine kleine Zelle mit einem Tisch, einem Stuhl, einem kleinen Bücherregal an der Wand und einer Kloschüssel aus Metall ohne Deckel, die von einem niedrigen Mäuerchen, als Sichtschutz abgedeckt wurde.
Vorsichtig schlug ich die dünne Decke über meinem Körper zurück und blickte an mir herunter. Zahlreiche Tattoos bedeckten meine Unterarme. Ich konnte die Muskeln an meinen Armen sehen und spürte, dass auch der restliche Körper sehr muskulös war ... durchtrainiert ... kräftig.
Ich betete zu Gott, dass ich vielleicht nur in einem Schläger oder Einbrecher und nicht etwa in einem Vergewaltiger oder Mörder gelandet war. Zu einem Gott, an den ich im Grunde seit mehr als einem Jahrhundert nicht mehr glaubte.
Gäbe es einen Gott, wie könnte er mich dann so strafen? Oder war es vielleicht doch gerade ein Beweis für Gott, dass er mich prüfte oder mir Aufgaben gab? Es war müßig, darüber zu grübeln und hatte noch nie zu einem schlüssigen Ergebnis geführt.
Ich wappnete mich für die kommende und sicherlich erneut sehr harte Zeit
Kapitel 2 - Gefängnis
Bogdan Kovač, sie hieß mein aktueller Wirt, war 46 Jahre alt ... und ein Kleinkrimineller, der sich mit Taschendiebstählen und Trickbetrügereien über Wasser hielt. Er war gebürtiger Kroate, lebte aber schon seit über 40 Jahren in Deutschland. Dass er keine wirkliche Geistesgröße war, hatte ich schnell bemerkt, als ich sein Bewusstsein »nach oben« kommen ließ, um mich mit ihm zu auszutauschen.
Inzwischen war es kein Problem mehr für mich, die Kontrolle über meinen Wirtskörper zu übernehmen. Anfangs war ich dazu verdammt gewesen, als passiver Gast lediglich mitzuerleben, was mein Gastgeber so alles veranstaltete. Meine Versuche, mit meinen Wirten in Kontakt zu treten, hatten sie verwirrt und ließen sie an ihrem Verstand zweifeln.
Inzwischen gab ich den Ton an. Also entließ ich Bogdan Kovač aus der passiven Rolle, um mit ihm in Kontakt zu treten.
Hallo, Bogdan, ich denke, wir sollten uns unterhalten.
»Wer sprich da?«, fragte er laut in den Raum, in der Annahme, er hätte eine reale Stimme gehört.
Nenn mich »Sandmann«, und du brauchst dich nicht umzusehen, ich bin in deinem Kopf.
»Häh?«
Oh je, das würde wieder einmal eine schwere Geburt werden. Aber ich hatte es inzwischen aufgegeben, meine Gastgeber direkt beim ersten Gespräch überzeugen zu wollen. Es würde genug Gelegenheiten geben, zu denen ich mit ihm »reden« konnte, und er zweifelsfrei feststellen würde, dass kein Mensch in seiner Nähe war. Außerdem »hörte« ich ja seine Gedanken und wenn dann meine Kommentare dazu kämen, würde er schon schnell merken, wo ich wirklich war.
Denk einfach mal ein wenig drüber nach, sagte ich, und ich melde mich zu gegebener Zeit wieder.
Ich hatte es nicht eilig. Wenn man etwas in 173 Lebensjahren lernte, dann war es Geduld. Bogdan sah sich hektisch in seiner Zelle um, und ich begann, in seinen Erinnerungen zu kramen. Warum sitzt er überhaupt in dieser Zelle?
Wie bin ich nur in diesen Schlamassel gekommen?
Das Ergebnis meines kleinen Stupsers, von dem er dachte, es habe sich um einen eigenen Gedanken gehandelt, war eine Flut von Gedanken, Bildern und Erinnerungen, die in wirrer Folge durcheinander schwirrten - aber diesbezüglich hatte ich ja nun wirklich viel an Erfahrung aufzuweisen.
Das bedeutete allerdings nicht, dass ich erfreut gewesen wäre, über das, was ich da sah. Wenn ich Pech hätte, bedeutete es, dass ich ein ganzes Jahr in einem minderbemittelten Wirt im Knast verbringen musste. Der gute Bogdan saß zwar erst in Untersuchungshaft - also stand ein Prozess noch aus - allerdings saß er wegen Mordes ein. Ihm wurde vorgeworfen, seine Ehefrau umgebracht zu haben. Interessant an der Tat war, dass er sie nicht etwa einfach nur erdrosselt oder von einer Klippe gestoßen haben, sondern sie regelrecht abgeschlachtet und dann in der gemeinsamen Wohnung zerstückelt haben sollte.
Als wesentlich interessanter empfand ich allerdings die Tatsache, dass Bogdan nicht der Täter gewesen war. Niemand konnte behaupten, er sei ein Unschuldslamm, das bewies seine bewegte Vergangenheit, aber im Fall seiner ermordeten Frau war er tatsächlich so unschuldig wie frisch gefallener Schnee.
Woher ich das wusste? Gedanken können nicht lügen. Das war eine der ersten Erfahrungen, die ich schon vor über 150 »erlebten« Jahren erfahren durfte, allerdings beileibe nicht immer eine angenehme Erfahrung. Leider musste ich im Laufe der Jahre in die tiefsten Abgründe der menschlichen Seele schauen. Stellen Sie sich vor, Sie befinden sich im Kopf eines Pädophilen, der sich ständig ausmalt, wie er kleine Kinder missbraucht ... und sich noch nicht einmal schlecht dabei fühlt.
Aber wie so oft im Leben, entstand aus Schlechtem dann doch irgendwie auch etwas Gutes. Es war gerade diese spezielle Erfahrung gewesen, die mich gezwungen hatte zu lernen, wie ich die Seele - oder besser gesagt das Bewusstsein - eines Wirtes in die hinterste Ecke verbannen konnte. Anders hätte ich das Jahr in diesem abartigen Mitglied der menschlichen Gesellschaft nicht bei geistiger Gesundheit überstanden. Erschwerend in einem solchen Fall war allerdings, dass ich dann ganz alleine seinen Körper steuern musste. Natürlich war das ja das Ziel, damit er seine Triebe nicht ausleben konnte und die Kinder vor ihm sicher waren. Allerdings hatte ich dann auch keinen Zugriff auf seine Erinnerungen, was bedeutete, dass ich weder Arbeitskollegen, Bekannte oder selbst gute Freunde erkannte. Und welcherart seine »guten Freunde« waren, können Sie sich sicher lebhaft ausmalen.
Aber ich überstand das Jahr einigermaßen. Lediglich im letzten Monat hatte ich ein moralisches Problem, nämlich, was passieren würde, wenn ich nicht mehr in ihm, sondern wieder in meinem eigenen Körper sein würde, und er damit erneut die Kontrolle über seinen Körper hätte.
Allerdings ist einer meiner ehernen Grundsätze: Probleme sind dafür da, gelöst zu werden. Punkt! Aber dazu später mehr.
Vorrangig war in einem so frühen Stadium des Eintritts in einen neuen Gastkörper, einen Modus zu finden, wie ich mich mit dem Wirt, also in diesem Fall Bogdan, möglichst vernünftig arrangieren konnte. Da habe ich schon die verschiedensten Varianten erlebt. Von absoluter Verweigerung und Negierung der Fakten, bis zum sofortigen, vorbehaltlosen und begeisterten Einlassen auf die »tolle spirituelle Erfahrung«. In der Regel war es ein Mittelding und dauerte einfach eine gewisse Zeit, bis der Wirt akzeptieren konnte, was er sowieso hinnehmen musste.
Aber es gab da so verschiedene Methoden. Subtile und weniger subtile.
Kapitel 3 - Alltag im Knast
Kannst du denn nicht akzeptieren, dass eine Seele den Weg in deinen Kopf gefunden hat?
»Ich kann das irgendwie nicht glauben. Ich muss übergeschnappt sein.«
Frag beim nächsten Hofgang deinen Kumpel Mirco, was ihr gestern vereinbart habt.
»Wieso? Wir haben nichts vereinbart.«
Frag ihn einfach.
***
Mirco war ein kroatischer Drogendealer, der mit einem ganzen Kilo Koks geschnappt worden war. Ihm drohten mehrere Jahre Haft, da es nicht sein erstes Mal gewesen war. Bogdan hatte sich bereits kurz nach seiner Inhaftierung mit seinem Landsmann angefreundet, wenn er auch keinerlei Ambitionen hatte, jemals Kunde von Mirco zu werden.
Auf dem Hofgang sah ich sofort Mirco, der lauernd an einer Wand lehnte und der anscheinend nur auf Bogdan gewartet hatte. Allerdings muss ich an dieser Stelle zugeben, dass ich immer nur das sehen kann, was auch Bogdan gerade sieht. Möchte ich in eine bestimmte Richtung sehen, in die er nicht schaut, dann müsste ich die Kontrolle über seinen Körper übernehmen, was ich im Moment aber nur in Ausnahmefällen tun wollte. Gerade war es aber auch nicht erforderlich.
Mirco steuerte schnurstracks auf uns zu ... na ja, für ihn stand da nur Bogdan, aber ich sah uns eben als Team, also wollte ich weiterhin von »uns« sprechen.
»Alter, ich hab’s. Aber mach jetzt keinen Aufstand, sonst merkt noch jemand was«, überfiel Mirco uns, wobei er sich geheimnisvoll gab und ständig nervös über seine Schulter blickte.
»Was meinst du?« Ich spürte Bogdans Unsicherheit und aufsteigende Angst.
»Ey, Alter, mach jetzt keinen Scheiß. Ich hab mich an das gehalten, was wir gestern vereinbart haben.«
»Wir haben was vereinbart? Gestern? Wann? Was?«
Mirko sah Bogdan nun entgeistert an und erstmals machte sich Misstrauen in ihm breit. »Du willst mich verscheißern, oder? Wenn das eine Falle ist und ich dir den Stoff nur besorgen sollte, damit du mich in die Pfanne hauen kannst, dann bist du tot, das verspreche ich dir.«
Es wurde Zeit, dass ich mich einmischte, damit die Geschichte nicht aus dem Ruder lief.
Sag ihm, du hast nur Spaß gemacht und nimm den Stoff, den ich gestern als du geordert habe. Ich erklär’s dir später.
Zum Glück reagierte Bogdan erstmals ohne laute Rückfragen, ohne dummes Gestotter, sondern tatsächlich genau so, wie ich es ihm geraten hatte.
»Quatsch, Alter, hab nur Spaß gemacht. Lass rüberwachsen ... äh ... den Stoff, meine ich.«
Nach einer kurzen Unsicherheit und noch einigen misstrauischen Blicken über seine Schulter, zog Mirko schließlich ein kleines Plastiktütchen aus der Tasche und drückte es Bogdan unauffällig in die Hand. Dann entfernte er sich, so schnell es ging, ohne dass es nach Flucht aussah.
»Was hast du getan?«, fragte Bogdan völlig konsterniert, »Willst du mich umbringen?«
Kannst du das bitte endlich sein lassen, laut mit mir zu sprechen. Deine Mithäftlinge sehen dich schon als den durchgeknallten Sonderling, der mit sich selbst redet.
#Kannst ... du ... mich ... hören?# , dachte er nun überdeutlich und so langsam, als wolle er sich mit einem Grenzdebilen unterhalten.
Allerdings, du Vollidiot, sogar wenn du schneller denkst.
#nenn mich noch einmal Vollidiot, dann ... dann ...#
Ob Sie es glauben oder nicht, aber man kann auch in Gedanken lachen - was ich auch ausgiebig tat.
Was dann? Haust du dir dann selbst eine rein, in der Hoffnung, es tut auch mir weh? Aber immerhin hast du es ja jetzt endlich kapiert. Das ist ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung.
#in welche Richtung?#
Willst du den nicht hier raus? Vielleicht beweisen, dass du deine Frau nicht umgebracht hast?
#ja klar, aber wie soll das gehen?#
Lass das mal meine Sorge sein. Wir werden uns der Sache schon nähern. Ich weiß, dass du unschuldig bist, dann sollte es möglich sein, das auch zu beweisen.
#Woher weißt du, dass ich es nicht war, der meine Katarina umgebracht hat?#
Hast du vergessen, dass ich in deinem Kopf bin? Ich sehe deine Gedanken ... ich weiß alles, was du weißt. Ich weiß, es ist schwer, sich damit abzufinden, aber du wirst dich daran gewöhnen müssen. Du kannst keine Geheimnisse vor mir haben.
Die Gefühle, die mich überfluteten, stellten eine Mischung aus Angst, Verzweiflung, schlechtem Gewissen und Hilflosigkeit dar. All das waren die Reaktionen einer Person, der man gerade gesagt hatte, dass sie keine Geheimnisse vor jemandem haben könnte und man auch den letzten, schmutzigen Gedanken mitbekäme.
Mach dir keine Gedanken, Bogdan, du bist nicht der Erste, in dem ich mich aufhalte, und du bist leider auch nicht der Letzte. Ich habe schon Dinge erlebt und gesehen, von denen du dir keine Vorstellung machen kannst. Also bleib locker, mach dir keine Sorgen und dann werden wir gut miteinander auskommen.
Es hätte mich allerdings sehr gewundert, wenn er damit so einfach klargekommen wäre.
Er wäre der Erste gewesen.
***
Es hat selbst für mich lange gedauert, alle Implikationen dieser »Seelenwanderung«, wenn man sie denn so nennen kann, vollständig zu begreifen. Es gibt da ein paar Dinge, die man auf den ersten Blick nur sehr schwer versteht oder gar nicht erst bedenkt.
In meinem eigenen Körper lebe ich ja nur ein Dreizehntel meines gesamten Lebens, sieht man von den ersten 17 Jahre ab - und auch immer nur einen Monat, bis ich wieder ein Jahr weg bin.
Was würden Sie beruflich machen, wenn Sie einen Monat da sind und dann wieder ein Jahr weg? Genau! Es hat mich mein Abitur gekostet, dass ich im letzten Schuljahr nach einem Vollmond keine Ahnung mehr hatte, was am Vortag besprochen worden war, geschweige denn den Stoff des vergangenen Monats noch drauf hatte. Für mich war immer ein ganzes Jahr vergangen - und oft kein einfaches Jahr. Zum Leidwesen meiner Eltern musste ich die Schule abbrechen und hing einfach nur noch so herum.
Wovon sollte ich leben? Was sollte ich in den Tagen zwischen zwei Vollmonden Sinnvolles tun? Es sind zwischen zwei Vollmonden immer 29,5 Tage, also grob gesagt findet das Ereignis einmal pro Monat statt. Es gibt allerdings auch Jahre mit 13 Vollmonden, aber eigentlich interessiert mich die Anzahl nicht wirklich, lediglich, dass ich alle 30 Tage einschlafe und ein geistiges Jahr älter aufwache.
Nachdem ich anfänglich zwischen den Ereignissen rumgegammelt hatte, merkte ich schließlich, dass ich die Zeit sinnvoller nutzen sollte, denn schließlich musste ich ja auch von etwas leben. Sicherlich hat jemand von Ihnen schon den Gedanken gehabt: Der reist doch durch die Zeit, kann man da nicht Geld machen?
Allerdings reist mein Bewusstsein in die Vergangenheit, nicht in die Zukunft. Scheiße - dachte ich zunächst, bis ich schließlich richtig begriff, was da eigentlich passierte und dass es ein riesiger Vorteil war:
Mein Bewusstsein verbringt immer ein Jahr in der Vergangenheit, aber es reist ja mit dem Wissen der Person in die Vergangenheit, die das Jahr schon mal durchlebt hat. Demzufolge weiß ich (mein Vergangenheits-Ich), was in diesem Jahr passieren wird. Das ist dann doch ungefähr so, als könnte ich in die Zukunft sehen, oder? Das war schon sehr verwirrend und ich hatte einige Zeit gebraucht, bis ich es soweit verstand, um einen Versuch zu unternehmen.
Die Gelegenheit hatte ich, als ich im Körper eines jungen, dynamischen und notorisch erfolglosen Börsenmaklers landete. Durch Zufall hatte ich (mein Gegenwarts-Ich) nur kurz zuvor einen Artikel gelesen, dass die Aktien einer sehr bekannten Softwarefirma wegen eines angeblich gravierenden Fehlers in den Keller fielen, um dann wenige Wochen später, nach Aufdeckung der Falschmeldung eines konkurrierenden Unternehmens, in nie gedachte Höhen zu schnellen.
Dieses Wissen zu meinem Vorteil zu nutzen, gedachte ich auf jeden Fall einmal auszuprobieren. Das Ergebnis war ... nun ja, erstaunlich.
Ich werde auf die Einzelheiten aller Implikationen zurückkommen.
Kapitel 4 - Mein Anwalt
In den meisten Kriminalfilmen wird aus Zeitgründen der Aufenthalt in der Untersuchungshaft und die dort stattfindenden Besuche eines Anwaltes beim Beschuldigten immer so dargestellt, als käme der Anwalt alle Nase lang und in kurzen Abständen seinen Mandanten besuchen.
Die Wahrheit sah leider anders aus. Bogdan war zwar ein Kleinkrimineller, aber er hielt nicht viel von Anwälten - auch bei ihm waren wie bei vielen anderen Kriminellen schlechte Erfahrungen der Auslöser. Also hatte er sich keine Mühe gegeben, einen passenden Anwalt zu finden, weshalb ihm wegen der Schwere des Tatvorwurfs – immerhin ging es um den Mord an seiner Ehefrau – ein Pflichtverteidiger zugeordnet worden musste. Bogdan hielt nicht viel von ihm. Er sah in ihm einen arroganten Schnösel, der sich seine ersten Sporen in einem medienwirksamen Mordfall verdienen wollte. Zuletzt war er vor drei Tagen zu einer kurzen Besprechung dagewesen, aber Bogdan hatte ihm kaum zugehört.
Also sah ich mir nun erstmal die Unterlagen an, die er in seiner Zelle aufbewahrte. Daraus erkannte ich zum einen die Erreichbarkeit des Anwalts und zum anderen, was bisher so gelaufen war. Und was ich las ... war unglaublich!
Dieser Grünschnabel von Rechtsverdreher hatte Bogdan tatsächlich ein Schreiben aufgesetzt, in dem er die Tat gestehen sollte. Er sollte es lediglich noch unterschreiben. Auf meine Nachfrage bestätigte Bogdan mir, dass der Anwalt der Meinung war, nur so könne er auf ein mildes Urteil hoffen.
So ... ein ... Bullshit! Offensichtlich glaubte Bogdans Möchtegern-Verteidiger nicht an dessen Unschuld und zog auch noch nicht einmal in Erwägung, dass er es sein könnte.
Ich sah mir die Daten an und informierte Bogdan darüber, was wir am nächsten Tag tun würden. Das bevorstehende Gespräch mit Rechtsanwalt Simon Hecker, den Bogdan auf etwa Ende Zwanzig schätzte, würde sicherlich sehr interessant und aufschlussreich werden ... allerdings nicht für den Anwalt.
Bogdan verlangte natürlich, sofort zu erfahren, was ich mit Hecker besprechen wollte, aber im Gegensatz zu mir konnte er meine Gedanken nicht hören, wenn ich das nicht wollte.
Lass dich überraschen. Das wird ein nettes und lustiges Gespräch. Ich bin sicher, es wird dir gefallen. Du musst mich einfach nur machen lassen, okay?
#Ich weiß aber nicht, ob ich das will. Woher soll ich wissen, dass du mich nicht noch tiefer in die Scheiße reitest?#
Ich musste wieder lachen.
Bist du wirklich der Meinung, das sei noch möglich? Du steckst schon knietief drin und ich bin deine einzige Hoffnung, dass sich daran etwas ändert. Also lass mich einfach mal machen.
#Und nochmal ... was, wenn ich das nicht will und dich daran hindere?#
Ich seufzte auch für Bogdan vernehmlich. Also würde es wieder einmal auf ein Kräftemessen und eine Machtdemonstration hinauslaufen ... wie schon so oft zuvor. Aus Erfahrung wusste ich, dass er mir so lange nicht glauben würde, bis er es erlebt hatte. Da machten weitere Erklärungen keinen großen Sinn, also zog ich mich zurück und ließ ihn mit seinen Gedanken alleine.
***
Der junge Schnösel hatte sich tatsächlich dazu aufgerafft, uns am nächsten Tag zwischen zwei Termine zu schieben. Allerdings war ihm nicht bewusst, dass er es nun mit zwei Personen zu tun hatte. Für ihn war es lediglich Bogdan, der ihm im Vernehmungsraum der Haftanstalt gegenübersaß ... und das würde auch so bleiben.
Ich hatte Bogdan so weit in den Hintergrund des Bewusstseins verdammt, dass er keine Kontrolle mehr über seinen Körper hatte, aber immerhin noch alles mitbekam, was geschah. Ich wollte ihm nicht hinterher alles erklären müssen.
»Nun, Herr Kovač, Sie haben mir mitteilen lassen, dass Sie das Geständnis unterschrieben haben und mir noch weitere Einzelheiten über die Tat erzählen wollen. Ich bin ganz Ohr. Wo ist das unterschriebene Dokument?«
»Es gibt kein Dokument, Herr Anwalt.« Sein dümmliches Gesicht amüsierte mich. »Haben Sie wirklich geglaubt, ich würde diesen Schwachsinn unterschreiben? Ich bin nicht schuldig und wenn Sie nicht langsam Schritte unternehmen, die Ermittlungsbehörden in die richtige Richtung zu bewegen, muss ich mir vermutlich tatsächlich einen Wahlverteidiger suchen. Wie weit sind Sie mit der Akteneinsicht?«
Simon Hecker sah mich mit offenem Mund an. Er hatte bisher zwei Mal mit Bogdan geredet und der Bogdan, der ihm jetzt gegenübersaß, kam ihm sicherlich wie eine andere, eine gebildete Version des ihm ursprünglich so einfach gestrickt erscheinenden Mannes vor. Sein Mund stand offen, und es sprach nicht gerade für eine überragende Intelligenz, dass ihm nichts Vernünftiges als Antwort auf meine ziemlich deutliche Ansage einfallen wollte.
»Sie ... äh ... Sie wirken ... verändert«, stammelte er und hantierte mit den Papieren, die er aus seiner Yuppi-Leder-Aktentasche genommen und vor sich auf den Tisch gelegt hatte.
»Ja, das hat vermutlich damit zu tun, dass ich viel Zeit zum Nachdenken hatte und mir eine Art Erleuchtung gekommen ist.« Innerlich musste ich über meine doppelsinnige Formulierung lächeln. »Aber lassen wir dieses sinnlose Vorgeplänkel. Wie sieht es mit der Einsicht in die bisher zustande gekommenen Akten aus. Ich muss wissen, was genau passiert ist, wie diese unsägliche Tat wirklich abgelaufen ist und wo wir Ansatzpunkte für die Ermittlung des wirklichen Täters finden können.«
Wieder stierte er mich ungläubig an. »Sie reden ganz anders als bisher«, brachte er schließlich mühsam hervor. Dabei sah er mich prüfend mit zusammengezogenen Augenbrauen an. »Haben Sie mir den geistig zurückgebliebenen Kleinkriminellen bisher nur vorgespielt?«
Ich merkte, wie Bogdan angesichts dieser Beleidigung aus der passiven Rolle, zu der ich ihn verdammt hatte, an die Oberfläche zurückkehren wollte - was ich gerade noch verhindern konnte.
»Machen Sie sich keine Gedanken über meine intellektuellen Fähigkeiten, sondern darum, so schnell wie möglich Akteneinsicht zu bekommen und dann mit der Akte wieder bei mir zu erscheinen. Bis dahin haben wir nichts zu besprechen.« Nach diesen klaren Worten erhob ich mich und klopfte an die von außen verschlossene Tür, um dem davor wartenden Schließer zu signalisieren, dass die anwaltliche Besprechung beendet war. In der Regel ist es der Anwalt, der das tut, aber selbstverständlich kann auch ein Häftling jederzeit ein Gespräch abbrechen, wann immer er das will.
»Aber ... ich ... äh ...«, hörte ich Simon Hecker stammeln und drehte mich noch einmal um. Vielleicht konnte ich ihn ja noch ein wenig motivieren.
»Vielleicht sollten Sie mal darüber nachdenken, wie viel mehr es für ihre Reputation als Anwalt, wenn Sie statt mit einer milden Verurteilung eines Schuldigen, durch den Freispruch eines Unschuldigen und somit der Verhinderung eines unseligen Justizirrtums auch in der Presse ganz groß rauskommen.«
Ich grinste ihm zum Abschied noch einmal in sein dümmlich dreinschauendes Gesicht und ließ mich dann von dem Schließer zurück in meine Zelle bringen.
Schon auf dem Weg zurück entließ ich Bogdan aus seinem vorübergehenden Exil zurück an die Oberfläche.
#Meinst du, das war gut, den so zu verärgern?#, war seine erste Sorge.
Bist du denn der Meinung, er hat dich bisher gut vertreten? Nein, du musst nicht antworten, das war eine rhetorische Frage. Diese Null hat bisher nichts für dich getan, und wenn wir ihn gelassen hätten, wärst du hier drin versauert.
#Was hast du vor?#