Die Rache der Schildkröten
von Sophie Reyer
1.
„Chris!“
Da ist eine Stimme.
Leise, behutsam.
Sie erinnert an den Wind, der durch die Blätter eines Baumes fährt. Oder ist es nur Wind?
„Chris!“
Ich kenne diesen Klang, aber ich habe kein Gesicht dazu. Wo bin ich überhaupt? Ist es morgen? Ist es Nacht? Welche Uhrzeit haben wir? Es muss spät sein, oder sehr früh. Auf jeden Fall umgibt mich Dunkelheit. Warum macht keiner das Licht an? Meine Augenlider sind schwer, in meinen Fingern ist kein Gefühl.
„Chris!“
Ich möchte antworten, möchte sagen, dass ich da bin, aber mein Hals fühlt sich trocken an, und die Zunge kommt mir groß und fremd vor. Es riecht nach Moos und Asphalt, eine seltsame Kombination. Ich gebe mir einen Ruck. Endlich gehorchen die Lider. Ein Gesicht hat sich über mich gebeugt. Es wiederholt noch einmal meinen Namen.
„Chris!“
Ich möchte nicken, aber mein Kopf fühlt sich an wie eingemauert. Was ist geschehen? Wo liege ich?
Das Gesicht über mir spuckt Worte aus, die sich leise und dumpf anhören. Alles ist in Watte gebettet. Bin ich in einem schlechten Film gelandet? Der Mann erinnert mich an eine Comicfigur. Ich möchte lachen, aber als ich einatme, spüre ich einen stechenden Schmerz in der Leiste.
„Du hattest einen Unfall.“
Warum gelingt es mir nicht zu nicken?
„Wir nehmen dich jetzt mit ins Krankenhaus.“
Woher weiß der Mann meinen Namen? Ich habe keine Antwort. Seine breiten Hände greifen nach mir. Das Stechen in der Leiste schwillt an.
Wo ist Maria?
Und Papa?
Und warum liege ich neben einer befahrenen Straße?
Ich kann Blätterwerk erkennen, als sie mich auf die Trage legen. Der Himmel ist ein wenig grau. Welche Jahreszeit haben wir? Ich bin unendlich traurig, und dann werde ich müde.
Es dauert nicht lange, da legt die Dunkelheit wieder ihr Zelt über mich. Ich kann ihr nicht widerstehen. Das Auto ruckelt ein wenig. Der Rhythmus beruhigt mich. Ich schlafe ein.
2.
Es war früh am Morgen. Ihre Lider fühlten sich noch ein wenig schwer an. Hinter dem Autofenster raste die Schilflandschaft vorbei. Pa hatte das Fenster ein Stück heruntergekurbelt, er hörte Radio und sang laut und falsch mit. Hit me, Baby, one more time. Chris schämte sich ein wenig. Es war ihr peinlich, dass ein erwachsener Mann sich aufführte wie ein Teenager. Sie durfte das – sie durfte sich Pickel ausdrücken, BHs kaufen und laut Musik hören. Aber Pa? Es kam ihr, wenn er sang, immer so vor als ob er versuchte, sie zu beeindrucken. Nur leider half das nicht.
Gerade stieg die Sonne aus dem Erdboden in die Höhe, und Chris musste an einen Cowboyfilm denken. Es kam ihr so vor, als würden Pa und sie der Sonne entgegenreiten. Nur dass Pa nicht so attraktiv war und keinen besonderen Hut trug, an dem ein Lederriemen baumelte.
„Woran denkst du?“, wollte Pa auf einmal wissen.
„So was fragt man nicht“, antwortete Chris ruppig.
„Warum nicht?“
#anfang{absatz}„Weil es komisch ist. Warte, es gibt ein Wort dafür.“
Sie hatten eine kleine Landstraße erreicht und Pa bog links ab, indem er das Lenkrad herumriss. Chris verdrehte die Augen. Sie wusste, dass er versuchte, sie zu beeindrucken. Schließlich fiel ihr das Wort ein.
„Indiskret“, sagte sie und grinste.
Pa nickte anerkennend.
„Habt ihr das im Deutschunterricht gelernt?“, wollte er wissen.
Chris schüttelte den Kopf.
„Das hab ich aus einer Talkshow, glaube ich“, murrte sie.
Aber Pa hörte nicht mehr richtig zu. Der Weg war steinig, Staub stieg in die Höhe, das Auto holperte ein wenig. Das Licht war honigfarben, und am Horizont tauchte schließlich eine alte Villa auf.
„Aus welchem Hollywoodfilm stammt denn diese Villa?“, meinte Chris und stieß einen anerkennenden Pfiff aus. Pa zog eine Augenbraue hoch.
„Du siehst wirklich zu viel fern“, behauptete er.
Pa parkte das Auto in der Einfahrt vor der Villa.
Mit ihrer weißen Wollmütze auf dem Kopf stieg Chris aus.
Der Kies knirschte unter ihren Füßen. Sie schritt mit andächtigem Blick die Allee entlang. Diese Villa war also der Ort, an dem sie von jetzt an leben würden. Auf einmal sah Chris einen weißen Schatten, der zwischen den Bäumen umherhuschte.
„Maria?“
Chris wusste, dass sie es nicht sein konnte, doch für einen Moment hatte sie ihr Gefühl für die Realität verlassen. Sie trat einen Schritt auf die Bäume zu, aber als sie genauer hinblickte, war da nur Dickicht. Einen Moment lang stand Chris bewegungslos da. Dann packte Pa sie ein wenig rau an der Schulter.
„Zieh die Hose hoch“, mahnte er.
Chris zuckte mit den Achseln und tat ohne eine gewisse Coolness, was er ihr befohlen hatte. Warum musste Pa immer so tun, als wollte er in sie hineinkriechen? Seit dem Unfall war er wirklich unausstehlich, dachte Chris und seufzte.
Dann schritten sie die Allee entlang. Pa ging langsam neben Chris her. Chris zog die Mütze noch ein bisschen tiefer in die Stirn. So konnte man ihre Pickel über den Augenbrauen nicht sehen und wusste nicht sicher, ob sie ein Junge oder ein Mädchen war.
Chris war ein kleiner Tomboy. Sie trug ihr Haar kurz, fransig und schwarz gefärbt. Außerdem puderte sie sich manchmal gerne die Haut weiß. Sie trug am liebsten Hüfthosen, darunter Boxershorts. In der Schule nannte man sie „Vampir“, und sie war auch ein Vampir. Zumindest tat sie gerne so.
„Nimm doch die Mütze ab, Chris“, sagte Pa.
Chris ignorierte gekonnt seinen Befehl; darin war sie geübt. Es reichte, dass sie sich die Hose über die Hüften gezogen hatte.
„Amy hat sich wirklich bemüht“, hörte sie den Vater murmeln, als sie vor dem großen Haus ankamen. Die breiten Flügeltüren wirkten gespenstisch. Sie waren aus Messing, konnte Chris erkennen. Den Eingang der Villa zierten zwei Löwenstatuen aus Stein.
Pa kramte in der Hosentasche nach einem Schlüssel und schloss die Tür auf. Mit einem knirschenden Geräusch öffnete sie sich.
Chris starrte einen weiten Gang entlang. Mit einem Mal hatte sie ein bisschen Angst.
„Was magst du dir denn zuerst anschauen?“, fragte Pa und legte die Hand auf Chris‘ Unterarm. Sie schauderte ein wenig. Atmen, hatte die Psychotante gesagt. Sie atmete tief ein und aus. Alles würde gut werden. Bestimmt. Sie würde hier ein neues Leben anfangen.
„Sag mal, alles in Ordnung?“, fragte Pa und sah sie mit einem besorgt bärigen Blick an. Chris seufzte und drehte den Kopf ein wenig zur Seite.
„Wie wäre es mit den Leichen im Keller? Die würd ich gern zuerst sehen!“, meinte sie ruppig, aber ihre Stimme zitterte ein wenig dabei. Pa schüttelte den Kopf.
„Du guckst zu viele Gruselfilme, Chris“, sagte er.
Auf einmal fiel die Tür ins Schloss. Chris merkte, dass sie zusammenzuckte. Beschämt senkte sie den Blick.
„Es war alles ein bisschen viel für dich dieses Jahr, oder?“, meinte Pa auf einmal und wollte nach ihren schmächtigen Schultern greifen. Sie wich aus und blickte an seinem Ohrläppchen vorbei.
„Vielleicht gehen wir jetzt einfach mal in mein Zimmer?“, schlug Chris vor und biss sich leicht auf die Unterlippe.
„Ja.“
Sie gingen einen langen Gang entlang. Der Boden knirschte unter Chris‘ flachen Converse. Wieder zuckte sie bei jedem Geräusch ein wenig zusammen. Die Ärzte meinten, dass das von einem Schock käme. Sie hatte nämlich einen Unfall gehabt, vor einigen Monaten. Sie schob die Gedanken zur Seite, wollte nicht daran denken. Dass sie sich schonen müsse, sich nicht überfordern dürfe, hatte die Ärztin ihr gesagt. Nur manchmal überfielen sie Alpträume, dann schreckte Chris aus dem Schlaf und es kam ihr vor, als wäre in ihrem Herzen ein Riss. Aber das sagte sie keinem. Auch nicht dem Vater.
Chris öffnete eine Holztür und blickte in einen kleinen, hellen Raum. Das Zimmer sah erstaunlich freundlich aus im Vergleich zum Rest der Villa. Hinter dem Fenster rauschten die Wipfel eines Baumes. Chris lächelte. Die Farbe der Blätter gefiel ihr. Auch die Wände hatten eine angenehme Farbe, sie waren in pastellfarbenem Blau gestrichen. Sie stieß einen Pfiff aus.
„Wer auch immer hier gewohnt hat, hatte keinen schlechten Geschmack“, sagte sie anerkennend. Dann drehte sie sich um und konnte erkennen, dass Pa lächelte. Sein Bart war wieder ein wenig struppig. Igel hatte sie den Vater früher immer genannt, als sie noch gerne mit ihm im Bett gelegen und ihre Nase gegen seine Wangen gestupst hatte vor dem Einschlafen.
„Du schaust schon wieder aus wie ein Penner“, meinte Chris. „Gut, dass Amy bald kommt.“
„Ich geh und hol mal deine ersten Sachen“, sagte Pa und wirkte so, als würde er sich ein bisschen schämen. Chris nickte und ließ sich auf das Bett plumpsen. Sie betrachtete ihre eigenen Zehenspitzen.
Chris.
Schon wieder diese Stimme, die sie aufzucken ließ. Chris atmete schwer auf. Da war wieder dieses Loch im Kopf, das mit einem unangenehmen Gefühl einherging. In ihrer Brust zog sich etwas zusammen.
„Du musst alles aufschreiben“, hatte die Psychotante ihr geraten.
Es war alles viel gewesen. Zuerst ihr Unfall und dann auch noch der Tod ihrer Freundin Maria. Und in Chris‘ Kopf gab es seitdem eine dunkle Stelle. Das Einzige, was in dieser Lücke Platz hatte, war diese Stimme. Aber Chris war sich nicht sicher, wem sie gehörte. Sie klang wie Blätterrauschen. War es Marias Stimme?
Maria ist tot, dachte Chris, aber sie fühlte nichts dabei.
„Du musst deine Träume aufschreiben“, hatte die Therapeutin ihr außerdem gesagt. „Stück für Stück wirst du Erinnerungen haben, und du kannst sie zusammenbauen wie ein Puzzle, bis am Ende ein vollständiges Bild entsteht.“ Chris kramte in der Hosentasche und zog einen Zettel heraus. „Stimme“, hatte sie mit Filzstift darauf gekrakelt. Das war ihre erste Erinnerung. Sie fühlte sich jetzt wirklich wie ein Pirat, einer, der von Gedankeninsel zu Gedankeninsel segeln muss, um die verlorenen Erinnerungen wieder einzusammeln. In dem Moment drangen Geräusche vom Flur herein. Chris bekam Angst, aber es war nur Pa, der mit einem Karton in der Hand ihr Zimmer betrat. Das Mädchen lächelte und stand auf.
„Danke, Alter“, meinte sie bemüht ruppig.
Pa zwinkerte Chris zu. Seit sie dieses Loch im Kopf hatte, durfte sie sich viel mehr leisten.
„Da ist noch was“, meinte er.
„Aha.“
„Von Amy.“
Chris zog eine Augenbraue hoch. Amy war seit drei Jahren Pas neue Freundin. Chris mochte sie, denn sie behandelte sie weniger rau als Pa.
„Und wo?“
„Im Garten“, erklärte Pa.
„Warum gibt mir Amy ihre Geschenke nicht selbst?“, entgegnete Chris.
„Sie kann erst Ende der Woche vorbeikommen, weißt du doch“, sagte er.
„Also? Kommst du mit und siehst dir dein Geschenk an?“
Chris stöhnte leise und ließ die Schachtel mit ihren Schätzen auf dem Schreibtisch neben ihrem Bett stehen. Mit bemüht breiten Schritten folgte sie dem Vater in den Garten. Die Sonne stach ihr ein wenig ins Gesicht, als sie wieder nach draußen trat. Mit einem Mal kam sie sich vor wie ein Vampir. Sie seufzte. Mit Maria hatte sie sich zu den Faschingsfeiern immer als Vampir verkleidet, fiel ihr ein. Chris rieb sich kurz die Stirn und musste blinzeln, bevor sie dem Vater folgen konnte. Der Garten war verwildert, und in der Mitte des verwachsenen Hofes konnte Chris einen Ziehbrunnen erkennen. Sie musste wieder an die Großmutter denken, die sie seit deren Streit mit dem Vater nicht mehr sehen durfte. Wie gut sie gerochen und wie weich sie sich angefühlt hatte.
Als Chris dem Vater ein wenig weiter gefolgt war, erkannte sie unter einer der Fichten, die neben dem Haus wuchsen, einen Karton. Sie bückte sich und öffnete die Schachtel. Was das sein konnte? Ein neuer iPod vielleicht? Chris hob den Deckel ein wenig an. Sie zögerte noch. Aus den Augenwinkeln konnte sie erkennen, dass Pa lächelte. Als sie den Deckel öffnete, blickte sie etwas Rundes an, das auf den ersten Blick aussah wie ein Hamburger.
„Ein Big Mac?“, meinte Chris grinsend, aber ihre Augen wurden feucht. Sie griff nach dem harten Gehäuse und hob das Tier in die Höhe. Es war eine Schildkröte. Ihr Lieblingstier. Diese Liebe hatte sie übrigens mit Maria geteilt. Maria, die jetzt tot war. Das Tier reckte den Kopf ein wenig aus dem Gehäuse, sein Hals war faltig. Chris lachte.
„Wie schön du bist“, sagte sie zu der Schildkröte.
„Ich wusste, sie gefällt dir“, meinte Pa.
„Wer sagt, dass es eine sie ist?“, entgegnete Chris und beobachtete, wie die Schildkröte mit ihren stumpfen Zehen in der Luft ruderte.
„Penelope wäre doch ein schöner Name“, schlug Pa vor.
„Was für ein Blödsinn“, entgegnete Chris. „Sie heißt Dracula.“
Pa murrte.
„Geht das schon wieder los?“
„Was geht los?“
„Komm schon, das ist doch keine Fledermaus.“
„Vampire sind auch keine Fledermäuse. Außerdem: Maria hätte es gefallen“, antwortete Chris, denn sie wusste, dass Pa nichts mehr sagen würde, sobald sie mit Maria käme. Tatsächlich zuckte er die Achseln.
„Vergiss nicht, Amy anzurufen und dich bei ihr zu bedanken“, sagte er nur und wandte sich ab.
Chris murrte etwas und stand auf. Das würde ihre erste Nacht in diesem Haus sein. Und sie würde mit einer Schildkröte an ihrer Seite einschlafen und vielleicht eines der Wörter träumen, die ihr helfen konnten, das Puzzle zusammenzusetzen, dachte Chris. Sie drückte Draculas harten Körper an sich und ging ins Haus.
Kaum war sie an ihrem Schreibtisch angelangt, klappte sie ihren Laptop auf. Tatsächlich, sogar in diesem Kaff gab es einwandfreien Internetzugang. Chris tippte: www.facebook.com Das Netz lud sogar recht schnell, stellte sie erstaunt fest. Sie loggte sich ein: Chris Balle. Passwort: Dracula. Sie lächelte. Zwei neue Nachrichten. Sie klickte sofort auf das Sprechblasenzeichen und las. „Hej, ich hoff, du bist gut angekommen, Sweetheart“, schrieb Melanie. Und „Hi, i am Rosa Come from Nigeria. I would like to ...“
Chris hörte sofort wieder auf zu lesen. Immer diese Anfragen von Unbekannten, dachte sie und verdrehte die Augen. Sie löschte die Nachricht sofort. Sie wollte keine Kontakte zu Fremden. Am liebsten war es ihr, wenn man sie einfach in Ruhe ließ. Aber das schien wohl niemand zu verstehen. Vor allem Pa nicht. Chris klickte sich zurück zu Melanies Nachricht und starrte die Lettern an. Dann das Profilbild. Melanie. Sie war immer die zweite Wahl gewesen, die, die ihr neben Maria am nächsten stand. Ein etwas molliges Mädchen mit Rastalocken und Brille. Jetzt hätte Chris ganz gern mit ihr gequatscht, weil sonst niemand da war.
„Na ja, ich leb jetzt in einer Spukvilla. Lol“, tippte sie und starrte auf das geöffnete Chatfenster. Neben Melanies Profilbild leuchtete kein grüner Punkt, aber vielleicht war sie ja trotzdem online, heimlich, und wollte sich nicht von irgendwelchen Typen anschreiben lassen. Chris wartete. Unter ihrer Nachricht erschien keine Lesebestätigung. Sie seufzte. Anrufen war dumm, da konnte man die Stimme zittern hören und so einen Scheiß. Na ja, dann nicht, dachte Chris.
Melanie. Sie blickte das Profilbild an. Ein schickes Selfie, an dem man nicht erkennen konnte, wie mollig Melanie war. Man sah nur ihre großen Augen und das Rastahaar, das in alle Richtungen stand. Auch die Brille hatte Melanie abgenommen, und sie war leicht geschminkt. Wann würde sie sie wiedersehen?
Dann wanderte ihr Blick zur Seite und sie sah es. Marias Bild. 123 Friends, stand darüber. Marias Foto war das dritte von links. Sie nannte sich auf Skype Vampyrella, auf dem Foto war sie im Gothic-Style geschminkt. Man konnte ihr noch eine Nachricht schicken. Obwohl sie schon tot war. Chris fand das alles sehr seltsam. Sie seufzte. Dann fuhr sie den Rechner herunter und zog die Decke über den Kopf.